VOM SCHÄLEN DER FINGER

LUST.

Meine Hände sind eine Katastrophe. Beide Daumen links und rechts vom Nagel fast bis aufs Fleisch aufgerissen. Die Nägel wellig, breit, verformt. Ich betrachte meine Zeigefinger. Da wo ich den Nagel von meinem Mittelfinger gut einhaken kann, ist die Haut weggerissen. Ringfinger: malträtiert. Am schönsten sehen die beiden kleinen Finger aus, nur am linken klebt eingetrocknetes Blut. An der Innenseite, da, wo mein Daumennagel so perfekt hinkommt. Wie ein Schlüssel ins Schloss passt er. Klick. Einhaken. Aufreißen.

Ich lackiere meine Nägel wieder ab. Zu viel Aufmerksamkeit. Da würde ich auch nie einen Ring dranstecken.

THE PEELING OF MY FINGERS.

VOM SCHÄLEN MEINER FINGER.

Zuerst umkreist der Zeigefinger den Daumen. Suchend. Er reibt an den Seiten, fährt von links nach rechts über den Nagel und die angrenzende Haut. Immer und immer wieder. Fast so als würde er versuchen den Nagel mit der Fingerkuppe glatt zu polieren. Es ist ein Spiel. Beide Finger wissen, was passiert und zögern es heraus. Kreisen umeinander, reiben sich. Haut an Haut. Nagel an Nagel. Dann, fast wie aus versehen, bleibt der Nagel des Zeigefingers an der Nagelhaut der Daumens hängen. Es kribbelt. Tausend Ameisen auf meiner Haut. Der Zeigefingernagel gräbt sich ein bisschen ein, aber noch nicht tief, noch nicht schmerzhaft. Fast liebevoll fährt er den seitlichen Nagelrand des Daumens ab. Fast so, als wollte ich testen, ob eine Nageldicke dazwischen passt, als wollte ich sicherstellen dass Daumennagel und Daumenhaut auch wirklich voneinander getrennt sind. Fast wie im Nagelstudio, wo mit einem Rosenholzstäbchen die Haut vom Nagel geschoben wird. Zumindest glaube ich das. Es kribbelt. Überall.

Der Zeigefingernagel bohrt sich ein bisschen tiefer in den Spalt. Bewegt sich, von unten nach oben. Von unten nach oben. Wieder und wieder und wieder wieder. Ich halte inne.

Noch ist nichts passiert. Noch ist es nicht zu spät aufzuhören. Ich muss einfach nur den Zeigefinger vorsichtig aus der Nagelhautlücke heben.

Ich muss eine andere Beschäftigung finden. Noch kann ich aufhören. Noch kann ich morgen schöne Hände haben. Fingerspitzen die sich sich zeigen dürfen. Passend zum Püppchengesicht, den langen Wimpern und dem akzeptiert unterernährten Körper. Noch kann ich aufhören. Kann Bilder von Champagnergläsern in meiner Hand machen, oder Iced Lattes, oder von anderen Fingern, starken, männlichen, die sich mit meinen verhakten. Noch.

Ich balle meine Hände zu Fäusten. Öffne sie wieder. Irgendetwas anderes tun. Ich kratze über meine Arme, fahre über meine Lippen, befühle meine Ohrläppchen, zupfe Flusen von meinem Oberteil, bohre sogar in meiner Nase. Meine Haut kribbelt. Ich stehe unter Druck. Mein Herz rast. Und schließlich, nach ein paar letzten Faustballungen, nach dem letzten verzweifelten Ablenkungsversuch, bei dem ich meine komplette rechte Hand in den Mund stecke, findet der Zeigefinger zurück zum Daumen, der Nagel gräbt sich wieder in seine Lücke und in dem Moment wo er gut steckt, zieht er ein bisschen nach außen. Einhaken, ziehen. Einhaken ziehen. Die blasse Haut weicht, die rosa-rote kommt hervor. Ich schiebe die obere Schicht langsam weg und ziehe die Haut unter dem Nagel hervor. Einhaken, ziehen. Einhaken ziehen.

Serotonin. Das Kribbeln wird von einer warmen Welle puren Glücks abgelöst. Ich fühle meine Mundwinkel nach oben wandern. Meine Augen werden wässrig. Einhaken, ziehen. Einhaken ziehen. Manchmal gibt der Zeigefingernagel auf. Verbiegt sich nach oben. Dann kommt der Mittelfinger zum Einsatz. Einhakten und ziehen.

Zwischen Nagelhaut und Daumennagel klafft jetzt eine größere Lücke. Jetzt wird es kritisch. Denn das Ziel ist es, in einem Zug soviel Haut wie möglich vom Finger zu schälen, ohne dabei zu tief zu reißen. Wie bei einer Zwiebel. Ich will die obere Schicht lösen. Von der rechten Nagelseite langsam rund um den Nagel, bis zur linken Seite. Vorsichtig. Je größer das Stück Haut – desto besser.

Geht man zu tief, kann man nicht mehr schälen, nicht mehr reißen, dann gehts ins Fleisch und dann muss man zur Schere oder zu einem kleinen Messer greifen. Nur beim Schneiden bleibt immer eine Kante die in den nächsten Stunden verhärtet und austrocknet und deswegen unablässig und über Tage bearbeitet werden muss. Und das bedeutet mit blutenden Daumen im Mund in der Bahn sitzen. Mit blutendem Daumen mit Mund im Meeting sitzen. Mit blutenden Daumen im Mund versuchen sexy zu sein, mit blutendem Daumen mit Mund versuchen nicht zu heulen. Blut ist schlecht, das geht auch nie wieder aus den Seidenblusen und schönen Kleidern raus.

Der perfekte Schälvorgang ist der, bei dem Haut zurückbleibt, roh aber rosa. Keine Fleischwunde. Der perfekte Schälvorgang lässt sich mit Bepanthen behandeln. Ohne Pflaster.

Einhakten und ziehen. Einhakten und ziehen. Einhakten und ziehen. Der Moment ist wie ein Rausch, ich bin höchstkonzentriert, meine Finger chirurgische Präzisionswerkzeuge. Schmerzen? Keine. Die kommen erst später. Wenn ich versuche eine Tüte Nüsse mit meine malträtierten Fingern zu öffnen und die entzündeten Nagelbetten es unmöglich machen fester zuzugreifen.

Dann kommt der Ekel. Der Ekel kommt, wenn ich die Hautfetzen von T-Shirt und Hose schüttle. Von meinem Bürostuhl, von meiner Bettdecke, von seiner Bettdecke. Der Ekel kommt, wenn ich ein Stück Haut nicht mehr mit den Fingern zu greifen bekomme und dann mit den Zähnen nachhelfen muss um es vom Finger zu reißen. Wenn ich das Stückchen zwischen meinen Schneidezähnen zerkleinerE und runterschlucke.

Dann kommt auch die Scham. Bei hässlichen Händen hilft das Püppchengesicht auch nicht weiter. Ein Blick auf meine Hände sagt alles. Disziplinlos. Eklig. Ich schwöre mir: nie wieder und während ich das schwöre, kribbelt meine Haut. Da steckt doch nie jemand einen Ring dran. Und es brodelt unter meiner Haut während ich mir auf Instagram perfekt manikürte Hände ansehe, bemerke ich gar nicht, dass der Daumen längst am Ringfinger kratzt. Eine kleine Lücke findet. Einhaken und abreißen.

Einhaken und abreißen. Einhaken und abreißen.

Da steckt nie jemand einen Ring dran. Eine Welle des Glücks erfasst mich als ich ein perfektes Stückchen Haut abziehe. Da steckt nie jemand einen Ring dran. Gut so.

Ich glaube, dass ist gut so.